Das Geheimnis im Wesen des Yoga

Das Geheimnis im Yoga hat zwei große Aspekte. Zunächst einmal ist Yoga – und das Tantra, das ein Teil davon ist – kein Geheimnis im Sinne eines verbotenen Wissens, das man nicht weitergeben darf. Vielmehr ist Yoga etwas, das seinem Wesen nach dem gewöhnlichen Menschen und dem alltäglichen Leben auf natürliche Weise verborgen bleibt.

Das liegt daran, dass Yoga eine innere Natur besitzt, die unausgesprochen ist – nicht, weil sie nicht ausgesprochen werden darf, sondern weil sie unaussprechlich ist. Die Seele des Yoga entzieht sich den Kategorien des Verstandes, allen Worten und Handlungen, die versuchen könnten, sie auszudrücken.

Jeder Versuch, diesen innersten Kern sichtbar zu machen, würde ihn nur verschleiern. Ihn als leicht verständlich oder rein praktisch darzustellen, hieße, genau jenen Teil des Yoga zu ignorieren, der jenseits von Praxis liegt. Diese Ignoranz zerstört den wahren Yoga – und verschließt ihn gerade denen, die ernsthaft danach suchen.

Der Yogi, der Yoga verstehen will, muss das Formlose anerkennen, das allen Formen zugrunde liegt. Je tiefer er in sich selbst blickt, desto deutlicher erkennt er:

Das wahre Yoga – das große Namenlose – entzieht sich Worten, Techniken, Formen. Der Yogi verneigt sich in Stille und bewahrt die Natur des Unnennbaren im Schweigen.

Er zieht es vor, allein mit dem Einen Großen zu sein. Ist er unter Menschen, so handelt er wie sie. Doch wenn die Wahrheit einmal erkannt ist, kann sie durch kein äußeres Mittel erreicht oder verändert werden. Der Yogi wird von Handlungen frei und bleibt unsichtbar in der Welt.

Weil er das große Geheimnis im Herzen trägt, predigt er nicht. Was von innen erkannt wird, ist wahr; was nicht von innen erkannt ist, ist nicht erkannt. Deshalb stört er die Gedanken anderer nicht, denn er hat nichts hinzuzufügen.

Sein Geheimnis ist nur denen offen, die danach fragen.

Worte können nicht ausdrücken, was der Geist erfassen kann. Und der Geist kann nicht erfassen, was Worte zu sagen versuchen. Die Wahrheit liegt jenseits der Sprache. Sie kann von niemandem enthüllt werden – sie muss erfahren werden. Am Ende stehen wir alle sprachlos vor Ihm: dem Namenlosen, dem Formlosen, dem Allgegenwärtigen.

„…Doch der Weise soll die Gedanken der Unwissenden, die an Handlungen gebunden sind, nicht stören. Indem er selbst im rechten Geist handelt und auf Mich ausgerichtet bleibt, inspiriert er still andere, dasselbe zu tun.“

— Bhagavad-gītā 2:25–26

 

 

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Das Geheimnis im Wesen der Wahrheit

Was ist Wahrheit?

Wahrheit ist die Wirklichkeit dessen, was ist. Es gibt Menschen, die behaupten, dass Wahrheit relativ sei, aber das ist nicht richtig. Es gibt viele Blickwinkel auf die Realität einer Sache, und diese Blickwinkel sind Facetten der Wahrheit. Die Wahrheit selbst ist das Wesen einer Sache, und dieses Wesen ist absolut.

Die Tatsächlichkeit der Welt, also die Wahrheit darüber, was die Welt ist, ist ihre Seele, und ihre Erscheinung zeigt sich durch die vielfältigen Augen der Welt. Dieses Wesen der Welt ist die Welt selbst, es ist die Schöpfung und damit Gott. Die Erfahrung dieser Schöpfung ist die Seele der Welt und damit die Göttin.

Die Wahrheit ist also das Göttliche.

Wie können wir dieses Wesen der Wahrheit, also das Wesen der Dinge, verstehen und erkennen? Wie Kierkegaard sagt: „Die Wahrheit ist immer im Einzelnen.“ So ist das Verständnis einer Sache immer ein individueller Prozess. Wenn ein Einsicht kollektiv wird, also geteilt zwischen Individuen im Wort oder im Bild, dann wird sie reduziert auf den Ausdruck, den der Einzelne verstehen kann.

Geteilte Information ist immer der groesste gemeinsame Nenner aller, die sie teilen.

Bist du schon einmal an einem Fußballstadion vorbeigegangen, wenn alle singen? Es ist das dämonische Grölen der Massen. Der Einzelne mag gut singen, doch sobald es 40.000 Menschen tun, verliert sich die Wahrheit in jeder Stimme, und die größte Gemeinsamkeit aller ist leider sehr klein.

Das gleiche gilt für die Einsicht in das Wesen der Natur auf spiritueller Ebene. Gottes Wort wirst du in Einsamkeit am besten hören können, denn dort ist das Einzelne dem Höchsten am nächsten.

Die Seele tauscht Quantität gegen Qualität.

Je mehr das, was wahr ist, geteilt wird, desto weniger ist die Wahrheit vorhanden. Je mehr sie destilliert und ungeteilt bleibt, desto reiner wird sie.

Die größte Vision ist die, die unausgesprochen und ungeteilt bleibt.

Aus diesem Grund muss das Tantra, das wahr ist, ungeteilt bleiben, um der Wahrheit am nächsten zu sein. Nicht weil es geheim ist, sondern weil es im Geheimen dem Wesen der Wahrheit am nächsten sein kann.

 

Yogis Figuren Handzeichnung Chakra

Das Geheimnis der Kraft

An der Quelle des Yoga liegt Shakti – die Kraft. Die Hatha Yoga Pradipika spricht davon, dass Kundalini, ein Name für diese Kraft, der Schlüssel sei, mit dem der Yogi das Tor zur Erleuchtung öffnet.

Diese Kraft ist besonders im Tantra – einer inneren Disziplin des Yoga – präsent. Kundalini wird im tantrischen Text Siddha-Yogeśvarī-Mata erstmals erwähnt. Von dort fand sie ihren Weg in viele Traditionen – auch in unsere Praxis.

„Kundalinī ist der Schoß des Universums. Aus ihr entstehen die drei Śaktis, und aus diesen gehen alle Klänge der menschlichen Sprache hervor.“

— Siddha-Yogeśvarī-Mata

Warum aber ist Kundalini, die Shakti geheim? Shakti ist der Schlüssel zur Existenz. Sie ist Māyā, das Tor zur Illusion, und Kundalinī, das Tor zur Befreiung. Sie ist Jñāna Shakti, das formende Wissen, aus dem das Leben entsteht, das du führst. Alles, was du denkst und glaubst, ist eine Mischung aus deinem Verstehen und deinem Irrtum.

Wenn du nicht irren würdest, wärst du nicht du. Und wenn du nicht auch etwas verstehen würdest – wärst du ebenso wenig du.

Deine Identität besteht aus Licht und Schatten. Shakti ist die Kraft, die beide formt. Deshalb beschreibt das Devī Māhātmya die große Kraft zugleich als höchste Göttin und höchste Dämonin – als Grenzen und Ursprung der Schöpfung zugleich:

„Du bist das große Wissen und die große Illusion,
die große Intelligenz, das große Gedächtnis und die große Täuschung,
die große Göttin und die große Dämonin.“

— Devī Māhātmya 1:77

Tantra – Die Kunst, eins mit der Göttin zu werden

Tantra ist die Kunst, mit der Göttin eins zu werden – eine Reise in das Wissen über das eigene Licht und den eigenen Schatten. Es ist die Konfrontation mit dem Selbst, so wie es sich wirklich zeigt.

Wer bist du in diesem Wissen? Was ist deine Leidenschaft? Warum bist du, wer du bist? Wie bist du hierhergekommen?

Dieses Wissen zerbricht die Persönlichkeit, die aus ihren Grenzen besteht. Das individuelle Selbst wird in das kosmische Sein aufgenommen. Doch dieser Prozess kann nur durch vollständige Hingabe geschehen – denn er ist der Tod des Begrenzten.

Es ist das Einswerden mit Bhairava, dem, dessen Ruf den Tod des Todes verkündet. Auflösung ist Schmerz. Lernen ist Schmerz. Loslassen ist Schmerz – und auch der Tod ist es. Doch hinter jedem Schmerz liegt eine größere Freiheit. Hinter dem Tod des Todes öffnet sich der Himmel in die Weite des Kosmos.

Er ist auch als Bhairava bekannt, da er der Herr jener ist,
die sich an seinem furchterregenden Brüllen (bhīrava) erfreuen –
dem Ruf, der den Tod des Todes verkündet!

Als Meister jener Schar erhabener Yogis,
die der Furcht überdrüssig sind und Befreiung suchen,
ist er Bhairava – der Höchste, dessen Wesen reines Bewusstsein (vijñāna) ist.
Als Spender der Nährung der Seele breitet er seine Kraft im ganzen Universum aus!

— Maṅgala-Śloka zur VBT, Kṣemarāja

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Die Konsequenz der Macht

Shakti ist Kraft, und Kraft ist Macht – jene dynamische Energie, die das Formlose in Form bringt. Sie ist die Ermöglichung von Selbstverwirklichung – durch die Erfahrung des Selbst.

Doch was uns oft von der Verwirklichung unserer inneren Träume trennt, ist nicht der Mangel an Geld, jener Kraft, die das Denkbare möglich macht, sondern der Schatten unserer Illusionen:

Er täuscht uns mit falschen Träumen und raubt uns zugleich die Kraft, echte Träume zu verwirklichen. Wir sind doppelt gefangen – und diese Gefangenschaft ist Segen und Fluch zugleich.

Denn hätte der Mensch die Macht, all seine Illusionen zu verwirklichen, wäre dies seine Vernichtung.

Stell dir einen Süchtigen vor, dem man plötzlich Reichtum gibt – besser, er bleibt arm.
Andererseits: Wäre das Bewusstsein so frei von jeder Illusion, sodass sich keine Leidenschaften mehr erheben, würde das Leben auch aufhören zu sein.

Die große Kraft lähmt daher das individuelle Sein – um es überhaupt möglich zu machen.

Wer Tantra praktizieren möchte, muss zuerst eine reine Intention haben. Nur wer seine illusorischen Leidenschaften bereits innerlich abgelegt hat, kann diese Macht ertragen – denn sonst würden seine Leidenschaften, in Form gegossen, ihn zerstören.

Tantra ist Macht. Es ist die Fähigkeit das unmanifestierte Wirklichkeit werden zu lassen.

 

Schlange Kundalini handzeichnung

Der Lehrer des Tantra sieht den Schüler still an. Er prüft sein Herz – seine Liebe. Ohne Worte beobachtet er, ob der Schüler tut, was richtig ist.

Wenn der Lehrer erkennt, dass der Ruf der Göttin aus dem Herzen des Schülers spricht, wenn das Opfer gebracht wurde, wenn nichts mehr gebraucht wird – dann darf der Schüler eintreten in das Geheimnis.

Doch dies ist kein Grund zu verzagen. Im Geist der Bhagavad-Gītā sollen wir einfach tun, was gut ist – und dem Wahren treu bleiben.

Wenn die Göttin uns für würdig hält, wird sie uns an der Hand nehmen – und uns in den Tempel führen.

 

Dann dürfen wir dankbar sein.