Die Geschichte des Matsyendra
Die folgende Geschichte stammt aus dem Caturaśīti-Siddha-Pravṛitti oder „Die Lebensgeschichten der vierundachtzig Siddhas“ von Abhaya Datta.
In einiger Entfernung vom Land Kāmarūpa lebte ein Fischer namens Minapa an den Ufern des Ozeans Ita. Eines Tages segelte er hinaus aufs Meer und warf seine Netze ins Wasser. Minapa hatte Glück, denn ein riesiger Fisch verfing sich in seinem Netz. Der Fisch war jedoch viel stärker als Minapa und zog ihn mitsamt dem Netz ins Meer hinaus. Minapa versank im Ozean und der Fisch verschlang ihn. Auf wundersame Weise überlebte der Fischer im Bauch des Fisches und wartete auf sein Schicksal…
Zu dieser Zeit bat die Göttin Pārvatī ihren Gemahl Śiva, ihr zu lehren, wie man in diesem dunklen Zeitalter – kaliyuga auf Erden – Freiheit von dem Schmerz des Daseins erlangen kann (Ps. Historisch war das jener Zeitraum im 11jh. in dem Indien von den Raubzügen der Perser heimgesucht wurde. Tausende von Tempeln wurden zerstört und viele wurden getötet). Śiva aber sagte, dass dieses Wissen zu geheim sei um es einfach so unter den Menschen zu lehren, und er bat sie, auf den Meeresgrund hinabzusteigen, wo sie vor neugierigen Ohren sicher wären.
Dort, in den Tiefen des Ozeans, schwamm auch der Fisch, der Minapa verschlungen hatte, in der Nähe des Gottes und der Göttin. Als Śiva begann über den Weg des Yoga zu sprechen, schlief Pārvatī jedoch ein und konnte die Geheimnisse des Yogas nicht hören. Śiva selbst wurde misstrauisch, ob sie noch zuhörte, und fragte sie nach einer Weile: „Hörst du noch zu?“ Aber Pārvatī, schlief schon fest. Doch der Fischer, versteckt im Bauch des Fisches, antwortete: „Ja, das tue ich!“, also setzte Śiva seine Erklärungen über das Hatha Yoga fort. Als Śiva schließlich fertig war, erwachte Pārvatī und erkannte, dass sie eingeschlafen war, und entschuldigte sich.
Worauhin Śiva antwortete: „Wenn du die Lehre des Yoga nicht gehört hast, wird es leider kein Hatha Yoga in der Welt geben können!“ Er pausierte einen Moment und fragte dann: „Wer war es dann, der zu mir sagte, dass er zuhörte?“
Minapa antwortete aus dem Bauch des Fisches heraus: „Ich habe zugehört!“ Da erkannte Śiva, dass das Hatha Yoga für die Welt nicht verloren war. Allerdings war Śiva auch zornig, denn das Wissen war für die Göttin selbst bestimmt gewesen und nicht für einen normalen Menschen.
Daher sagte Śiva: „Du hast dieses göttliche Wissen zu Unrecht erhalten, denn es war für die Göttin bestimmt. Daher musst du nun 12 Jahre im Bauch des Fisches praktizieren und erst dann
darfst du das Wissen in der Welt lehren. Denn das, was unvergänglich ist, verlangt dem, was vergänglich ist, sein Wesen als Opfer ab.“
Zwölf lange Jahre praktizierte der Fischer daher sein Sādhanā im Bauch des Fisches, wie es der ursprüngliche Guru gelehrt hatte. Nachdem die Jahre verstrichen waren, wurde der Fisch von Fischern gefangen und aufgeschnitten. Aus dem Bauch des Fisches erhob sich der gefangene ehemalige Fischer, aber anstatt der Fischer von einst zu sein, war er nun Matsyendra Nāth, ein Meister – der „Herr der Fische“.
Er war der erste Lehrer des Haṭha Yoga.

Der Herr der Fische
Die Geschichte des Matsyendra ist die eines Mannes, der in das Unbewusste herabsteigen muss, um den Teil in sich zu finden, der das Göttliche verkörpert.
Matsyendra erhält das Wissen, das jenseits des normalen Lebens liegt, es ist von den „Göttern gestohlen“. Das bedeutet, es bringt den normal Sterblichen aus dem Raum des Individuellen in das Universale. Der Preis hierfür ist das Sterbliche.
So verlangt das Göttliche den Tribut des Irdischen. Auf diese Weise ist jedes wahre Wachstum eine Transformation, ein Verbrennen des Alten im Bauch des Fisches und ein Neu-Geboren-Werden des größeren Selbst.
Matsyendra opfert sich selbst und gewinnt das ewige Leben. Der Fisch ist das Vehikel dieser Transformation, er ist das Eintauchen in die Tiefe des Daseins.